Es ist wirklich zum Verzweifeln: Die gute, alte "Ganzheitlichkeit" schmeckt inzwischen nach "Steintürmchen an blauem Himmel", Yogakurs mit Bio-Ingwer-Tee auf Discounter-Kunststoffmatte, Gartencenter-Buddhas, kräutergrünen Wimmelbildchen, veganer Wellness mit Ausrufezeichen und Yakuzi - und, nicht zu vergessen - nach sauteurer, dafür hochachtsamer Lebenshilfe-Industrie.
Dies musst du tun (physiologisch) und das musst du tun (psychologisch) und auf keinen Fall jenes mehr (z.B. essen)! Und detoxen! Und trainieren! Und schädliche Glaubenssätze beackern! Und deine Vergangenheit enttraumatisieren und - jawoll! - dein inneres Kind zufriedenstellen. Sonst wird das nie was! Das kostet dich viel Arbeit! (Und viel Geld.) Klappt's trotzdem nicht mit der versprochenen ganzheitlichen Heilung, hast dich halt nicht genug angestrengt! Glück, Erfolg und Gesundheit gehen schließlich Hand in Hand!
Und da - beim letzten Punkt - muss ich doch zähneknirschend zustimmen. Aber ich hätt's halt gern ein bissele bodenständig formuliert. Deswegen fällt "holistisch" auch durch. Dass ein Mensch ein komplexes System darstellt, ist ja wahrlich nichts Neues. Für die Altvorderen war das eh klar (wie denn sonst?), und durch unsere Wissenschaftler ist es ein inzwischen dicht beforschtes Feld mit den schönen Namen "Psychoneuroimmunologie" und "Psychoneuroendokrinologie".
Aber man sieht schon an diesen sperrigen Wortschöpfungen mit P, dass die medizinische Sprachkiste auch nix Griffiges für den Hausgebrauch und Normalmenschen enthält.
Bliebe noch, sich im esoterisch-spirituellen Wortangebot zu bedienen. Fazit: entweder zu pathetisch, zu achtsam, zu rosabrillig, reißerisch / vollmundig / übertrieben, zu einseitig, zu belehrend, zu (ab-)wertend, zu defizitfokussiert.
Drum wasch ich der "Ganzheitlichkeit" einfach mal sämtlichen Marketingdreck ab und stelle sie dir in alter Frische vor:
Wichtig dabei ist das Wort "haben". Würden wir selbiges durch "sind" ersetzen, hätten wir ein gewaltiges Problem! In Körper wohnen unsere Seele, unsere Emotionen und Erinnerungen - Schmerz und Freude und alles dazwischen. Sogar unser Verstand braucht den sich bewegenden, fühlenden Körper, um artgerecht zu funktionieren.
Jede einzelne Zelle trägt und reagiert auf Erinnerungen sowie Gefühle, schaltet dabei Teile der DNA ein oder aus. Das kann Einfluss darauf haben, ob eine Zelle bei der nächsten Teilung entartet oder nicht. Man vermutet, dass der Effekt generationenübergreifend wirken kann. Zu den Zellerinnerungen wird gerade recht ausführlich - leider nicht immer seriös - geforscht.
Damit das funktioniert, sind alle Beteiligte des Systems bestens miteinander vernetzt und kommunizieren ständig: über neuronale Schaltstellen, das vegetative Nervensystem, körpereigene Botenstoffe (Hormone). So wird z.B. Gewebespannung reguliert, Abwehr- und Heilungsprozesse eingeleitet, Stoffwechsel (Atmung und Verdauung) hochgefahren oder gedrosselt etc. Müssten wir das alles großhirnisch kontrollieren, wären wir längst tot. Trotz Yoga, Ingwertee und säbelzahntigerfreier Umgebung.
Da wir täglich unzählige, wichtige und noch sehr viel mehr unwichtige Eindrücke zu verarbeiten haben, läuft ein großer Teil über das Unterbewusstsein, d.h. diese erscheinen gar nicht zur Entscheidungsvorlage in den grauen Zellen. Meistens funktioniert das prima. Unser Großhirn denkt dabei sogar, es hätte selbst entschieden und ist zufrieden. Und du auch ;)
Entscheidet unser Großhirn aber etwas, das dem Unterbewusstsein zuwiderläuft, reibts im Getriebe. Das macht der vorlaute Verstand mitunter gerne, indem er dir Erwartungen einflüstert oder dich mit anderen vergleicht. Er schickt dir im Körper fühlbare Gefühle (drum heißen sie so), meistens irgendeine Form von Angst. Das können Wut, ein komisches Zaudern, Beklemmungen oder ähnliches sein. Ungünstige Körperhaltungen bzw. Bewegungsmuster werden dann auch gerne (ein-)genommen.
***LINK: Siehe hier: http://im-prinzip-tango.blogspot.com/2017/02/das-trippeln-der-tango-und-die-angst.html
Das bedeutet für dein Ganzheitlichkeits-System Stress pur!
Was nicht schlimm wäre, würde er nur kurz andauern, um eine Gefahrensituation zu meistern und in körperlichem Auspowern enden, was die Alarmhormone abbaut. Diese Reaktionskette ist jedoch für den chronischen Gebrauch nicht konzipiert!
Die Viren freut's, da leichtes Spiel. Entzündungen nisten sich subakut oder gleich gescheit in deinen persönlichen Schwachstellen ein (Gelenke, Gefäße, Verdauungstrakt, ...). Deine Zellen mögen in diesem Zustand kaum Nährstoffe und was ihnen sonst gut täte, aufnehmen. Oder dein Körper wehrt total übermotiviert-kampfberauscht gegen Stoffe, die dir mit Ruh' im Herz gar nichts ausmachten: Unverträglichkeit in Magen und Darm oder eine hübsche Allergie. Abhängig von der Grundkonstitution wird der eine Mensch dick, um in der vermeintlichen Lebensgefahr Vorräte anzulegen. Der andere verliert den Appetit, magert ab. Der Blutdruck erhöht sich oft. Unruhe und Schlafstörungen kommen meistens dazu. Und da dein Großhirn in lebensgefährlichen Situationen zu langsam denkt, schaltet unser System im Stressfall um auf reflexartiges Reagieren. Kreativität und Lebenslust haben dann selbstverständlich auch keinen Platz. Reparatur und Regeneration warten auf der langen Bank - die haben Auszeit. Heilen? Nicht jetzt! Lebensgefahr!
Was zwischen Unbewusstem und Bewusstsein nicht passt, ist oft gar nicht genau zu bestimmen. Manchmal entscheiden die seelischen Hinterbänkler aufgrund einer alten Erfahrung, die dich verletzt hat. Vielleicht erinnert sich der Rational-Denkapparat gar nicht mehr daran, wertet den Sachverhalt als irrelevant oder bezieht Aussagen auf sich, die gar nicht so gemeint waren (oder manchmal doch). Das muss aus der heutigen Sicht gar nichts Schlimmes gewesen sein. Trotz allem produziert dein Unbewusstes eine Wenn-Dann-und-Darum-Regel:
"Wenn ich ... bin (setze ein Adjektiv deiner Wahl ein, z.B. "anders"),
dann passiert .... (Folge deiner Wahl, z.B. "soziale Ausgrenzung").
Daran ist klar zu erkennen, dass ... (Grund deiner Wahl, z.B. "ich nichts wert, arrogant, hässlich, zu dumm, ... bin").
Manchmal finden wir verkürzte Versionen ohne Interpretation abgespeichert: Einmal auf die heiße Herdplatte fassen reicht!
Wir alle haben solche internen Überzeugungen und Regeln en masse, und ein Großteil ist wirklich hilfreich! Das Großhirn hat so mehr kreativen Freiraum, es muss nicht ständig alles neu bewerten, sondern kann auf Bewährtes zurückgreifen. Manche dieser Glaubenssätze sind aber schlicht und einfach falsch, stimmen uns ängstlich, grantig, unglücklich. Fast immer, wenn dich etwas so richtig anpisst, trotz Ingwertee und Yoga, ist so eine ungute Überzeugung am Wirken. Diese Lügen spöken in deinem System herum, wie ein Virus auf der Festplatte deines Computers. Und wieder: Stress pur! Folgen: siehe oben. Und hintendrein kommen automatisch ungeliebte Gedankenschleifen aus dem Großhirn.
Triggert ein Außenimpuls das Verletzungs-Regel-Memory, wird Alarm im Jetzt eingeläutet. Denn die Aufgabe des Unterbewusstseins ist, dich zu schützen! Für Erfolge in der Welt dort draußen oder gar Glück ist es nicht zuständig. Nur schützen, deswegen wird es dich manchmal empfindlich ausbremsen. Sei ihm deswegen bitte nicht böse.
Oder muss man überhaupt schon wieder WAS TUN? Dran ARBEITEN? Hilft es, mit dem Hirn gegenzuhalten? Mit soviel Kraft wie möglich? Denn das Unterbewusstsein ist ein fast unüberwindbarer Kraftprotz! Da hast du keine Chance, sorry. Wusstest du, dass die gängigen Lebenshilfekonzepte, die lediglich dein intellektuelles Hirnkastl ansprechen, eine Versagerquote von 97 % zeigen? Es trotzdem zu versuchen, bringt wieder Stress pur auf allen Kanälen: Im Unbewussten, weil du etwas tun willst, was eben nicht deinen Überzeugungen entspricht (obwohl das teilweise nur stramme Lügen sind)? Das Unbewusste heißt so, weil es UNbewusst - dem Verstand nur in kleinen Teilen zugänglich - ist. Bearbeitbar nur über Bande, teilweise psychotherapeutisch. Dein Selbstbild knittert mit "Wieder nicht geschafft, du Versager", Angst-Beklemmung macht sich breit, und dein Körper wird mit Stress geflutet, was er nicht so gut findet und schmerzlich, entzündet, immungeschwächt reagiert. Und Schmerzen und Co sind auch effiziente Stressauslöser.
Egal, an welchem Faden des verknoteten Ganzheitlichkeits-Netzwerks man zieht, der gemeinsame Nenner ist meist Stress. Und damit meine ich nicht den situativen, sondern den chronisch im Hintergrund schwelenden.
Eben nicht mit Gewalt daran zu ARBEITEN, Leistungen großhirnisch von den verschiedenen Fraktionen zu einzufordern, mit Gewalt bewältigen und böse mit sich selbst zu sein, wenn es nicht klappt. Daran bist nicht du Schuld, sondern unserer Natur zuwiderlaufende Konzepte.
Sind intellektuelles Hirnkastl, Unterbewusstsein und Körper bis hinab zu den einzelnen Zellen ruhig, kann Heilung beginnen. Den Selbstheilungsmodus haben wir alle eingebaut, wir müssen ihn nur ungestört arbeiten lassen!
Dann arbeiten unsere Anteile zusammen, um dich soweit möglich in den Werkszustand zurückzuversetzen: zufrieden, Ruh' in Herz und Hirn, schmerzfrei, geschmeidig, kreativ und vor allem lebenslustig. Es wird dir sehr viel leichter fallen, mit klarem Kopf zu beurteilen, was du brauchst oder zu spüren, welche Therapie dir am wahrscheinlichsten helfen wird. Vielleicht siehst du nun ganz konkret, was du an deinem Umfeld ändern möchtest.
...dass sich Herz und Hirn nicht mehr streiten, sondern mögen und an einem Strang ziehen? Zumindest zeitweise? Ungute Überzeugungen loswerden? Körperliche Symptome und Gefühle beeinflussen? Zur Ruhe kommen, in den Regenerationsmodus umschalten? Ohne sich anzustrengen? Häh?
Arbeits- und/oder familiäre Belastungen reduzieren? Wie denn? Die Kinder im Schließfach am Bahnhof parken, die seniorigen Eltern an einem Rastplatz aussetzen mit Schild um den Hals? Lieber nicht arbeiten und Geld verdienen? Aber was füllt dann den Kühlschrank, zahlt die Miete? Eine gute Fee? (Mir ist eine solche noch nie begegnet.) Das Leben ist halt manchmal so - da kannst du drehen, wenden und schönreden wie du willst.
Stressige Aspekte streichen geht oft nicht. Arbeit reduzieren? Delegieren? Vielleicht, ist aber abhängig von der Dicke deines Portemonnaies. Außerdem kann es enorm stressen, wenn man sich einer Verantortung entzieht...
Wenn du eh sehr routiniert bist, dich bis ans Limit vollzupacken, fällt es dir wahrscheinlich leichter, noch "ein bissel" draufzupacken. Dieses spezielle "ein bissel" darf aber keine Arbeit sein, sondern ein Spielraum, der dir Freude macht, auch wenn ihn andere doof, kindisch, albern finden. Das können zwei Minuten sein, in denen du der Amsel im Garten zuhörst, ein Eis (unvernünftig vor dem Mittagessen) auf dem Weg heim von der Elternsprechstunde, oder was auch immer du dir sonst nicht erlaubst. Oder du bäckst dir Pfannkuchen, nachts, nachdem du eine Kochsendung angeschaut hast, da schlaflos. Du kannst dich auch auf der Toilette einschließen und im Krimi weiterlesen, den du dort versteckt hast?
Du musst nicht dein ganzes Leben von jetzt auf gleich umschmeißen: Beginne vorsichtig minutenweise mit Mini-Spielräumen. Du musst auch niemandem erzählen, was du in deinen "Ich bin dann mal weg"-Zeiten unternimmst. Du wirst sehen, wie wertvoll dir diese "Zeit-Verstecke" werden. Und die passen immer noch irgendwo dazwischen. Finde die Ritzen!
Mein neuester persönlicher "Spielraum": Seit Kindheit wollte ich immer Urzeitkrebse, wie in Yps früher. Da ich sie meinen Söhnen nicht andrehen konnte, hab ich mir vor vier Wochen endlich selbst welche gegönnt. Nun schwimmt schon die zweite Generation meiner "Ulis" (Uli ist genderneutral. Die Krebschen lassen sich schwer zuordnen und unterscheiden. Drum haben sie allen den selben Namen.)
Oder probiere das Züricher Ressourcen-Modell, Autogenes Training, Reiki, Traumreisen, in knisterndes Kaminfeuer starren, Tango tanzen - egal, Hauptsache, es passt zu dir!
Vielleicht fällt dir ja, so entstresst, regeneriert, kreativ und lebenslustig wie du ganz bald gewiss sein wirst, ein hübsches Synonym für "ganzheitlich" ein? Dann schreib mir bitte!
Prost mit Ingwertee und schönen Tag!
Herzliche Grüße,
Manuela
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